Werner Mikus, 29. März 2015

Das Prinzip einer unaufhebbar widersprüchlichen Stimmigkeit

Der Blick einer Bildanalytischen Psychologie auf die Wirklichkeit ist ein Denken in Paradoxien. Entstehen und Werden sind in einer widersprüchlichen Stimmigkeit eingebunden (gefangen).

Wie kann man sich das an einem Beispiel vorstellen?
Jemand ist verabredet und erwartet eine Person, in die er sich möglicherweise bereits verliebt hat. Die Erwartete lässt aber auf sich warten und zwar sehr lange. In diesem Falle kann es passieren, dass der Wartende sehr ins „Leiden“ kommt. Er befürchtet, dass seine Liebe vielleicht nicht erwidert wird. Gleichzeitig geschieht aber noch etwas davon sehr Verschiedenes: Der Wartende wird sich nämlich zur gleichen Zeit einer offenbar schon bestehenden „Bindung“ zu der Person bewusst und gerät dabei in die entsprechend zugewandten Gefühle – verhält er sich doch in seinem Bangen wie jemand, der den Anderen schon wie einen „Teil“ von sich betrachtet. Wenn sich dieses gute Gefühl eines „Habens“ mit dem gleichzeitig zunehmenden Gefühl eines Mangels jetzt wie in einer Verrechnung zusammenfinden würde, müsste dann nicht etwas von beiden sich gegenseitig aufheben und in der Summe etwas „Kleineres“ dabei herauskommen!? Wie wir wissen, verhält sich das Seelische aber gerade nicht so: Die entgegengesetzten Gefühlsverhältnisse bleiben vielmehr auf eine eigene Weise erhalten! Kurz: Das Warten tut so richtig „schön“ weh.

Dagegenhalten ändert nichts – aber so entsteht Kultur
Der Mensch in unserer Kultur deutet die Widersprüche in den Paradoxien gerne als etwas Vorübergehendes und setzt darauf, sich irgendwann von ihnen freimachen zu können. An dem genannten Beispiel kann man sich deutlich machen, dass dies prinzipiell nicht gelingen kann: Der Widerspruch ist konstitutionell – nicht nur im geschilderten Beispiel, sondern überall. Das führt zu einem wichtigen Grundsatz: So wie es in der Physik den Satz der Energieerhaltung gibt, so gibt es in dem bildanalytischen Denken die Widerspruchs-Erhaltung: Die Widersprüche verändern ihre Erscheinungsformen, sie verschwinden aber nicht wirklich. Wir Menschen suchen jedoch unentwegt dieser Natur ein Schnippchen zu schlagen. Mit großem Erfindungsreichtum entwickeln und erfinden wir alle möglichen Wege und Methoden, die uns am Ende doch noch die erfolgreiche Befreiung aus diesem Dilemma versprechen wollen. Die Widersprüche aber bleiben. In der Summe entsteht merkwürdigerweise etwas recht Brauchbares dabei: unsere Kultur.

Das Komplexe macht das Einfache – und nicht umgekehrt
Alle Zusammenhänge, die wir als erlebbar bezeichnen, sind von bildhafter oder genauer gesagt, von sprachbildlicher Natur. Und jedes einzelne Bild ist in der Lage, ein Gleichnis für etwas Anderes zu werden. Auf diese Weise bringen sich die „Dinge“ zum Sprechen. Sie zeigen ihr eigenes Verstehen von Wirklichkeit (Bildverstehen), wenn sie sich als Gleichnisse gegenseitig ausprobieren. Dabei bringt sich eine „widersprüchliche Stimmigkeit“ ins Bild, die uns nahelegt, auf das Verhältnis von „einfach und kompliziert/komplex“ nochmal neu zu schauen. Und dabei erkennen wir Folgendes: Das, was als einfach und ursprünglich erscheint, leitet sich aus komplexen Zusammenhängen her und nicht umgekehrt. Hierauf hat der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead bereits hingewiesen – dieser hat sogar ein dementsprechendes neues Denken herausgearbeitet. Whitehead, der in seinen frühen Jahren noch mit Bertrand Russell zusammen ein mathematisches Großwerk geschrieben hatte (Principia Mathematica), brachte später als Philosoph ein neues, vom wissenschaftlichen Mainstream auch heute noch stark abweichendes Denken auf den Weg.

Bildanalytisches Denken setzt ein initiierendes Paradigma um
In Whiteheads Idee von den universalen, also überall in der Natur wirksamen „Erfahrungszusammenhängen“ können wir ein initiierendes Paradigma sehen. Dieses stößt die Entwicklung einer „Psychologie mit grundwissenschaftlichem Anspruch“ an, eine Wissenschaft von den erlebbaren – wir können auch sagen sprachbildlichen – Zusammenhängen. Erlebbare (respektive sprachbildliche) Zusammenhänge zeichnen sich durch ihre potenzielle Natur aus und vereindeutigen sich erst in den gelebten Kontexten zu dem, was wir am Ende als Erleben und Verhalten vor uns haben. Aber auch dort, wo die besagten Zusammenhänge nicht schon auf diese Weise durchschlagen, bestimmen sie dennoch das Geschehen entscheidend mit. Wir sprechen hier von der Wirkungsweise des Atmosphärischen. Die erlebbaren oder sprachbildlichen Zusammenhänge stehen im Mittelpunkt dieses neuen Denkens einer bildanalytischen Psychologie und Psychologie des Atmosphärischen.

(Kurzfassung eines Vortrags von 2009)